Dieser Tage erhielten wir vom Forum Bildung, den schriftlichen Besuchsbericht der Experten und Jurymitglieder aufgrund dessen wir vor genau einem Jahr – im Dezember 2013 – den ersten Schweizer Schulpreis in der Kategorie „Nischenschule“ gewannen.
Hier möchten wir Sie an einem Auszug der Beurteilung der fünf Qualitätsbereiche, zu denen wir im Vorfeld in einem Bewerbungsdossier Stellung genommen hatten, teilhaben lassen. Den umfassenden Bericht finden Sie unter dem Menupunkt „Rahmenbedingungen / Qualitätsbereiche“.
Schulpreis: Film-Portrait über die Scuola Vivante
Leistung
Die Schule hat allerdings einen viel weiteren und vor allem mehrschichtigeren Leistungsbegriff. Sie geht davon aus, das Interesse und Betroffenheit die Grundlage von Lernen und darum auch von Leistung ist. Sie geht davon aus, dass sich die Kinder sehr individuell Lernwege erschliessen wollen und auch können. Dabei ist das Lernen immer vernetzt und die Knotenpunkte des Netzes knüpfen letztlich die Kinder und Jugendlichen selbst (Konstruktivismus). … Diese und auch andere vorliegende Abschlussarbeiten bestätigen die Beobachtung des Besuchsteams: Die Kinder und Jugendlichen in der Scuola Vivante sind in einem weiten Sinn interessiert, lernfreudig, leistungs- und zielorientiert. Die Schülerinnen und Schüler dokumentieren ihre Lernfortschritte mittels Texten, Grafiken, Zeichnungen, Fotografien, etc. Auffallend sind die ausgeprägten Stärken auf der metakognitiven Ebene. Sie denken über ihr Lernen nach und könne darüber berichten.
Die Scuola Vivante baut konsequent auf die intrinsische Leistungsbereitschaft der Kinder und Jugendlichen, stützt und begleitet diese sorgfältig und aufmerksam. Ein Mädchen fasst einfach und gleichzeitig sehr eindrücklich zusammen: „Diese Schule ist eine gute Schule, weil hier das Lernen keine Grenzen hat!
Umgang mit Vielfalt
… Diese bunte Mischung von Begabungen und Schulkarrieren scheinen in den kombinierten Modi Tagesschule, Gesamtschule und Altersdurchmischung sehr gut aufgehoben zu sein. Die Begabungen und Interessen werden berücksichtigt, die Formate im Schulleben sind abwechslungsreich, Ziele werden besprochen und individualisiert, Beziehungen lassen sich über Klassengrenzen hinaus leicht knüpfen. Die Kinder und Jugendlichen sind sich gewohnt, einander zu unterstützen. Das Besuchsteam konnte unzählig kleine Szenen beobachten, in welchen Schülerinnen und Schüler als Tutor wirken.
Der Lehrer aus England und die Lehrerin aus Frankreich sind im Alltag mal tätig als verantwortliche Sprachlehrperson mit klassischen Inputs für die beiden Sprachen, mal als stets ansprechbare Klassenassistenten, mal als Lehrperson, die für das Kochen und Turnen verantwortlich sind. Die Schule erzielt damit eine verblüffende Natürlichkeit im Umgang mit den beiden Sprachen, die von der Basisstufe an dazu gehören.
Die Scuola Vivante hat sich gegründet aus dem Anspruch, der Vielfalt der Kinder und Jugendlichen Raum zu geben und ihr Entfaltungspotential zu unterstützen. Neben einem grundlegenden und authentischen Respekt wählt die Schule mit der Altersdurchmischung, der konsequenten Individualisierung und dem Tagesschulmodell Formate, die diesem Anspruch tatsächlich genügen.
Unterrichtsqualität
In der Scuola Vivante nimmt der Raum als „dritter Pädagoge“ eine wichtige Rolle und die Gestaltung der Lernräume ist erwähnenswert. In den Lerngruppen gibt es einen Bereich, wo Schülerinnen und Schüler ihre individuellen Arbeitsplätze selbst gestalten können. Büropulte, Büchergestelle, Harasse, Pflanzen, Trophäen, Pokale, Sammlerstücke, Bilder verwandeln die Arbeitsplätze zu individuellen, manchmal kaum noch zugänglichen Rückzugs- und Lerninseln.
In einem zweiten Bereich gibt es einen grossen Tisch mit dazugehörender, fahrbarer Wandtafel, in dem sich alle vierzehn Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe versammeln können. Wer dort arbeitet ist ansprechbar, kann etwas gefragt werden.
Wichtiger Teil des Unterrichts ist das Aufsuchen von Lern und Erfahrungswelten. Die Basisstufe tut das mit dem Bauwagen. Die beiden anderen Stufen sind jeweils am Donnerstag ausserhalb der Schule unterwegs. Der Beizug von externen Experten und Expertinnen gehört ebenfalls zum Repertoire der Scuola Vivante. Wer könnte den Ofen kompetenter bauen und geniesst bei den Jugendlichen, die sich mit der Berufsfindung auseinandersetzen oder auseinandersetzen werden, mehr Glaubwürdigkeit als der Profi. Wer weiss besser über Getreide, Kühe und Traktoren Bescheid als der Landwirt. Und wer spricht besser Englisch oder Französisch als Menschen, die in den entsprechenden Ländern aufgewachsen sind.
Die Struktur der Lernprozesse legen die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe von regelmässigen, individuellen Besprechungen mit den Lehrpersonen, mit Lernvereinbarungen, die sie meist selber formulieren, und mit Planungstools fest. Sie schreiben Wochen- und Quartalsrückblicke und führen ein Logbuch. Die Spuren der Arbeit finden sich überall im Haus in Form von Postern, Collagen, Versuchsanordnungen etc. und sind Anreiz für Fragen und Rückfragen. In dieser Art entfaltet sich ein lehr- und lernreiches Schulgeschehen, offen aber nicht strukturlos. Und immer am Ende niedergeschrieben, gezeichnet, dokumentiert, festgehalten.
Das Lerngeschehen in der Scuola Vivante wird stark aus einem Alltag des Zusammenlebens heraus entwickelt. Unterricht muss nicht mit demselben Aufwand inszeniert werden, wie sonst in der Schule üblich. Unterricht findet dann statt, wenn eine Frage wichtig wird. Demnach brauchen Kinder ein Umfeld und Erlebniswelten, die Fragen provozieren. Dieses Umfeld versucht die Schule zu kreieren und hat viel Erfolg damit.
Verantwortung
Ohne Zweifel übernehmen die Kinder in der Scuola Vivante für ihr eigenes Lernen sehr viel Verantwortung. Die Kinder und Jugendlichen, von denen viele ihre Schulzeit in einer öffentlichen Schule starteten, beschreiben den Wechsel in die Scuola Vivante als nicht ganz einfach. Aber nach etwa drei Monaten hätten sie verstanden, dass sie sich in dieser Schule selber einbringen dürften und auch müssten, denn jeder lerne ja für sich selbst und nicht für die Erwachsenen. Nach dieser Entdeckung sei es nie mehr langweilig. Diese Aussagen wurden von den Eltern bestätigt. Die Beschreibungen gleichen sich. Die Kinder sind vom ersten Tag an wie verwandelt in der Scuola Vivante. Das hat aus Sicht der Eltern mit dem grossen Vertrauen zu tun, welches die Schule den Kindern schenkt.
Eine der Mütter betont besonders, dass die Diskussionskompetenz ihres Sohnes deutlich gestiegen sei. Er könne auf einmal sehr gut zuhören und bleibe beim Argumentieren beneidenswert ruhig. Hintergrund dieser Aussage ist die wöchentliche Austauschplattform in den Lerngruppen. Gemäss eines Indianerrituals und festgelegten Abläufen wird der sogenannte Sprechstab herumgereicht, es spricht, wer den Stab in den Händen hält. Dieses Ritual zwingt dazu, sein Statement zurückzubehalten und zu überdenken, bis der Stab bei einem angelangt ist.
Das Ritual ist für die Kleinen leicht zu verstehen und bewährt sich in jedem Lebensalter. Die Kinder und Jugendlichen bestätigen, dass diese Form ihnen erlaubt, Kritik und Anregungen frei zu äussern. Dies umso mehr, weil die Statements ernsthaft geprüft und berücksichtigt werden. So erhalten die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, die Schule mitzugestalten. Die Reise nach Marokko ist beispielsweise durch den Impuls einer Schülerin in einer solchen Sprechstabrunde entstanden, und auch die Teilnahme am Schweizer Schulpreis wurde dort besprochen und vereinbart. Diese Gesprächs und Mitbestimmungskultur erklärt, wieso die Schülerinnen und Schüler eine erstaunliche Einsicht in die Prozesse der Schule zeigen. Dadurch werden wiederum die metakognitiven Kompetenzen gefördert.
Kinder sollen Spuren hinterlassen dürfen in der Scuola Vivante, Zeichen setzen, Beiträge leisten, mitgestalten. Überzeugend dabei ist, dass es der Schule gelingt, mit dem Sprechstab eine Form der Mitsprache zu etablieren, die für alle Beteiligten einsichtig und offenbar hilfreich ist.
Schulklima, Schulleben, ausserschulische Partner
Auffallend ist sicherlich die Gesprächskompetenz der Kinder. Ein Mitglied des Besuchsteams erzählt von einem vielleicht zwölfjährigen Jungen, der mit ihm ein Gespräch auf Augenhöhe geführt habe. Die Kinder und Jugendlichen gehen nicht nur gerne in die Schule, sondern sie wissen darüber auch Bescheid. Sie sind sich gewohnt, ein Gespräch mitzugestalten, stellen selber Fragen, wollen etwas genauer wissen und wirken trotzdem nicht altklug dabei.
Erwachsene und Kinder duzen sich. Das ist einerseits aus der Geschichte der Schule zu erklären, aber auch mit der Überzeugung, dass sie als Lehrpersonen lediglich die eine Seite des Lerngeschehens verkörpern. Das „Du“ hat mit Augenhöhe zu tun und behindert die Führungsrolle der Lehrperson nicht.
Dabei ist die hohe Präsenz der Lehrpersonen zu erwähnen. Diese halten nicht Schule, sondern teilen ein Stück Leben mit den Kindern. Das wird von den Lehrpersonen als herausragende Stärke betont. Sie hätten das Gefühl, wirklich mit den Kindern auf dem Weg zu sein. Die hohe Berufszufriedenheit erklärt, warum Lehrpersonen trotz des kleinen Gehalts gerne an der Scuola Vivante arbeiten.
Die ehemalige Fabrik hat einen grossen Keller, dort hat die Schule eine gut ausgerüstete Werkstatt eingerichtet, wo getüftelt, aber auch produziert werden kann, das sogenannte „Brütwerk“. Dieses steht natürlich den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung und wird gerne genutzt. Die Besonderheit aber ist, dass diese Werkstatt auch für Kinder ab ca. 9 Jahren aus Buchs und der Region offen steht, am Mittwoch und Samstagnachmittag sowie für Ferienkurse, für einen symbolischen Beitrag nota bene.
Zur Öffnung der Schule gehört ebenfalls die bereits erwähnte Zusammenarbeit mit Fachkräften. Und las but not least ist die Scuola Vivante eine „Unesco“ assoziierte Schule, ein Netzwerk von 9000 Schulen in 180 Ländern. Diese beziehen sich auf die vier grossen Pfeiler der Erziehung: lernen, Wissen zu erwerben; lernen zu handeln; lernen zusammen zu leben; lernen zu sein.
In der Scuola Vivante trifft der Begriff „Schulleben“ ins Schwarze. Als Tagesschule, in der die Lehrpersonen das Mittagessen und die ausgedehnten Öffnungszeiten selber betreuen, verbringen sie zusammen mit den Kindern einen grossen Teil der Woche als Gemeinschaft. Die Schule erreicht ihre Ziele darum, weil sich ein natürlicher Umgang zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Lehrpersonen etabliert hat und weil diese ein Stück Leben mit den Kindern teilen.
Schule als lernende Institution
Das Team trifft sich jeweils während eines Tages zu Beginn und am Ende der Ferien, bespricht grundsätzliche Angelegenheiten der Schule, absolviert gemeinsame Weiterbildungen, setzt sich neue Ziele und evaluiert umgesetzte Massnahmen. Jeder Tag startet und endet mit einem kurzen Briefing.
Die Schule versteht sich als Ort des Lernens. Auch hier ein Beispiel zur Illustration: Ein Lehrer berichtet, dass nicht nur die Englisch- und Französischkenntnisse der Kinder wachsen, sondern auch seine eigenen. Durch die natürliche Präsenz der beiden Sprachen sei beispielsweise seine Sicherheit im Französisch im Verlaufe der Jahre deutlich gewachsen. Anders gesagt, er als Lehrer gehöre genauso zu den Lernenden wie die Kinder.
Auf die hypothetische Frage, wie es wäre, wenn die Scuola Vivante eine assoziierte Laborschule einer Fachhochschule werden würde, reagieren Schulleitung und Lehrpersonen unabhängig voneinander sehr ähnlich. Eine solche Möglichkeit wird als verlockend, herausfordernd, machbar und – wie könnte es anders sein – vor allem als sehr lehrreich gesehen. Die Beteiligten sind sich offensichtlich gewohnt, den Fokus zuerst einmal auf das Potential einer Idee zu richten.
Die Schule hat sich im vierten Jahr nach dem Start neu erfunden und damals die Grundlagen zu einer lebendigen, nachhaltigen, dem Lernen und Leben gewidmeten Schule gelegt. Auf dieser Basis hat sich die Schule stetig weiterentwickelt und ist zu einer kleinen, aber feinen Institution geworden. Die im Alltag gelebte Überzeugung, stets und zuerst das Potential zu sehen, hat der Schule entscheidend geholfen, heil über existentiell schwierige Zeiten hinwegzukommen.
Fazit
Das Expertenteam war sich am Ende der beiden Besuchstage einig, eine ausserordentliche, eine eigenständige Schule besucht zu haben. Um die Verbindung zwischen Lernen und Leben auf derart natürliche Weise zu organisieren, um das Vorwissen der Kinder im Lerngeschehen einzubinden und individuell weiterzuentwickeln, um die Verantwortung und Mitbestimmung der Kinder in grosser Selbstverständlichkeit zu etablieren, muss eine Schule sehr viel an Visions- und Überzeugungskraft, an Vertrauen und vor allem an Arbeit investieren. Auch wenn die Beteiligten selber den heutigen Stand als Folge einer gleichsam natürlichen Entwicklung beschreiben, in der auch Glücksfälle mitgeholfen haben, so ist klar, dass die Scuola Vivante eine Art Gesamtkunstwerk von Kindern und Erwachsenen ist, welches Achtung und noch viel mehr Beachtung verdient.
Das Besuchsteam dankt der Scuola Vivante herzlich für diesen besonderen Einblick in eine lebendige, offene und hervorragende Institution.
25. – 26. September 2013