Dieser Satz stand vor zwei Wochen in der Tagesauswertung im Logbuch eines Schülers. Er erinnerte mich an einen Artikel, den ich 2009 auf Anfrage einer Fachzeitschrift für dieselbe geschrieben habe. Er beschreibt die Zeugnisarbeit bei uns an der Schule. Für Interessierte habe ich ihn unten angefügt.
Vor zwei Tagen las ich nun in demselben Logbuch: „Das Zeugnis kommt bestimmt wieder ganz toll.“ Schön, wenn Kinder und Jugendliche mit dem Wort „Zeugnis“ diese freudigen und mutmachenden Bilder in Verbindung bringen können.
Auf den Spuren des Lernens – die Zeugnisse der Scuola Vivante
Veronika Müller Mäder
„Liebe Leserin, Lieber Leser, Sie halten den Beginn einer hoffentlich sehr ausführlichen Schulgeschichte in den Händen. Die Geschichte eines Kindes, das in der Scuola Vivante auf Spuren seines Lernens weitergeht. Die Lehrer und Lehrerinnen freuen sich darauf, dieses auf seinem Lernweg zu begleiten und zu fördern.“
Das sind die einführenden Worte zum Zeugnis, welches die Schülerinnen und Schüler der Scuola Vivante am Ende jedes Semesters mit nach Hause nehmen.
Die Scuola Vivante ist eine kleine Schule in Buchs SG, im schweizerischen Rheintal. Zukunftsgerichtet, mutfördernd, mit einem eigenständigen pädagogischen Konzept.
Ziel ist es, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, starke, mutige Menschen zu werden, die sich als mitfühlender Teil des Ganzen erleben und ihre Talente entfalten können. Sie sollen werden, wer sie im Grunde ihres Wesens sind, darin beherzt agieren und die Herausforderungen, die das Leben an sie persönlich und an uns als Gesellschaft stellt aktiv und kreativ zu gestalten. Um die Schülerinnen auf diesem Weg zu begleiten und zu fördern braucht es ein Bewertungssystem, dass über das bekannte selektive Notensystem hinausgeht. Neue Ausrichtungen in der Pädagogik erfordern neue Formen von Beurteilung.
An der Scuola Vivante gibt es drei verschiedene Arten von Zeugnissen: Das Zeugnisbuch, der Schulbericht und der Schlussbericht.
Das Zeugnisbuch
Das Zeugnisbuch wird von den Schülern verfasst. Die Zeugnisarbeit, die einen Teil der letzten zwei Schulwochen vor den Semesterferien einnimmt, wird von der täglich eingeübten Sicht auf sich selbst und auf den anderen genährt. Im Zeugnisbuch lernen die Schüler von Beginn an wortwörtlich „Zeugnis abzulegen“ über ihre Arbeiten und Lernfortschritte innerhalb eines Semesters. Das Zeugnisbuch dokumentiert die Schulzeit. Nebst Auswertung, Eigenbeurteilung und Fremdsicht nimmt der erzählende Erinnerungsmoment einen grossen Stellenwert ein. „Ja, Zeugnisarbeit!“, tönt es regelmässig gegen Ende des Semesters und die Köpfe der Schülerinnen tauchen in die Bücher ein. Die Freude an den vergangenen Einträgen ist hörbar. Es wird über die damalige Schrift gelacht, es werden Fotos angeschaut und Lernerfahrungen aufgefrischt. Die nächsten Leerseiten werden mit konzentriertem Engagement weiter gestaltet. Ein neunjähriger Schüler freut sich über ein geglücktes Projekt und denkt gleich über neue Ziele nach:„Ich habe es geschafft, alle Zahlen bis 10’000 aufzuschreiben. Ich bin sehr froh. Vielleicht schreibe ich weiter bis 10’000’000. Wenn ich das schaffen würde, dann wäre ich aber glücklich.“ Eine zwölfjährige Schülerin beschreibt ihre Erfahrung mit dem Körpertheater: „Im „Expression corporelle“ war es schön. Ich habe mich von einer anderen Seite kennen gelernt.“ Die Schüler erzählen, halten Erkenntnisse fest, bewerten sich und – was ihnen ganz wichtig ist – schreiben einander treffende, feinfühlige Rückmeldungen. Die Einträge sind ganz individuell.
Das Zeugnisbuch ist Eigentum des Kindes. Zu Semesterende bringen die Schüler das Buch zur Ansicht nach Hause. Die Eltern erhalten darin Einsicht in die Arbeit. Sie werden dazu ermutigt – ebenso wie die Fachlehrkräfte und Projektleute – einen Eintrag in Form eines Briefes, einer Geschichte, einer Rückmeldung für das Kind zu gestalten. Ebenso werden die Schülerinnen darin bestärkt, sich die verschiedenen Fremdsichten aktiv einzuholen.
Durch die Auswahl und die Art der Einträge zeigen die Schülerinnen, was ihnen wichtig und wert ist. Dies führt immer wieder zu aufschlussreichen Gesprächen. Für die Lehrpersonen ergeben sich daraus Impulse in Hinblick auf die Weiterarbeit mit der Schülerin. Auch im Familienkreis führt das Zeugnisbuch zu einem interessanten Einblick in die Lernwelt des Kindes und in den Entwicklungsstand ihrer Persönlichkeit. Begabungen, Talente und mögliche Berufswege kristallisieren sich heraus.
Der Schulbericht
Der Schulbericht wird Ende des Schuljahres von der Klassenlehrerin unter Einbezug der Fachlehrer und Kursfachkräfte zuhanden der Eltern und des Kindes verfasst. Der Schulbericht beschreibt den Lernprozess der Schülerin während des vergangenen Schuljahres und bewertet dabei ausgewählte Aspekte der geleisteten Arbeit und der Entwicklung. Der staatliche Lehrplan dient als Bewertungsgrundlage. Der Klassenlehrer achtet dabei unter gleichwertigem Einbezug der drei Kompetenzen Sozial-, Selbst- und Sachkompetenz besonders auf Folgendes: Positiv auffallende Fertigkeiten und Fähigkeiten; Bereiche, die noch zu verbessern sind; Bereiche, in denen Entwicklungen erkennbar sind.
Eine gute Grundstruktur ermöglicht es einer Lehrerin, den Bericht mit einem Aufwand von einer Stunde zu schreiben. Es sind wichtige Gedanken und Erkenntnisse, die sich in dieser Arbeit fokussieren und den Weiterweg mit diesem Schüler prägen. Der Schulbericht ist zudem die Grundlage für das Beurteilungsgespräch mit den Eltern.
Die Erfahrung zeigt, dass die jüngeren Schülerinnen kaum am Schulbericht interessiert sind. Die Rückmeldungen, welche sie im Zeugnisbuch und im Elterngespräch erhalten befriedigen sie vollauf. Den ältesten Schülern hingen reichen diese beiden Formen des Zeugnisses oft nicht mehr aus. Sie wollen wissen, wo sie sich im Vergleich mit anderen Gleichaltrigen befinden. Sie stehen vor dem Schritt in ihr eigenes Leben. Sie haben die Erfahrung machen dürfen, dass es in ihrer Beurteilung um sie selbst, um ihre Fähigkeiten und persönlichen Hindernisse gegangen ist. In ihrer Individualität gestärkt richten sie sich vermehrt nach aussen. Sie sind offen für den Schlussbericht und die Notenzeugnisse der nachfolgenden Schulen.
Der Schlussbericht
Der Schlussbericht in den letzten zwei Schuljahren an der Scuola Vivante wird von der jeweiligen Klassenlehrperson verfasst. Er gibt Auskunft über Schulform und Beurteilungskonzept sowie über den Leistungsstand des Schülers.
Der Schlussbericht dient als Zeugnis für den Übertritt an weiterführende Schulen oder für Bewerbungen für eine Berufslehre.
Die Beurteilung entsteht auf der Basis der drei Kernkompetenzen und auf drei Leistungsniveaus (Real- Sekundar-, Gymnasialniveau). Alle drei Teile werden ebenbürtig bewertet und gefördert. Die Beurteilung erfolgt durch ein Wortzeugnis und lehnt sich an die gängige Formulierung (sehr gut, gut, genügend, ungenügend) an. Die Fächereinteilung sowie die Bezeichnung der Lernniveaus werden von den kantonalen Richtlinien übernommen. Der Zeitaufwand, den Schlussbericht zu verfassen, deckt sich in etwa mit dem Ausstellen eines Notenzeugnisses.
Einige abschliessenden Gedanken
Seit siebzehn Jahren arbeitet die Scuola Vivante mit diesem Zeugniskonzept.
Die Schülerinnen sind stolz auf ihr selbst gestaltetes Zeugnisbuch und freuen sich darüber, es zu zeigen. Sie dokumentieren darin ihre Lernentwicklung. Sie zeigen, wer sie sind, womit sie sich gerne beschäftigen, was ihnen wichtig war und ist. Ihre Begabungen werden sichtbar. Die Schüler lernen sich kennen und reflektieren ihre Arbeit. Das Buch ist Erinnerungsstück, Spurensuche und Landkarte auf dem Weg zur Berufsfindung.
Die Schulberichte geben einen fundierten Einblick in das Lernen und den Entwicklungsstand der Schüler. Eltern schätzen grundsätzlich die breitere Sicht auf ihr Kind und sind dankbar um die umfassende Förderung. Für die Lehrpersonen bedeutet das Verfassen eines Schulberichtes im ersten Moment einen etwas grösseren zeitlichen Aufwand. Dieser hebt sich jedoch auf, wenn diese Arbeit im grösseren Zusammenhang betrachtet wird. In der intensiven gedanklichen Beschäftigung mit dem Schüler wird der Weg für eine fruchtbare Zusammenarbeit im nächsten Schuljahr geebnet, die Übergabe an den nächsten Klassenlehrer vereinfacht und der weitere Austausch mit den Eltern auf einen förderlichen Boden gestellt.
Die Schlussberichte gehen nach aussen. Zu den Lehrmeistern und an weiterführende Schulen. In diesen siebzehn Jahren haben 60% der Schüler eine akademische Laufbahn eingeschlagen, sind in Gymnasien oder inzwischen in Studien wie Physik, oder Biologie. 30% der Schülerinnen haben sich mit diesem Zeugnis auf eine Berufslehre wie Landschaftsgärtner, Feinmechaniker oder Rheinschiffer beworben und 10% sind in eine weiterführende Schule in Richtungen Kunst, soziale Berufe oder Tanz eingetreten. Der Schlussbericht ist akzeptiert und dank seiner Aussagekraft geschätzt. Dem gängigen System der Notenbeurteilung treten die Schüler der Scuola Vivante mit einer gesunden kritischen Distanz entgegen. Sie vermögen sich im Wissen um ihre Fähigkeiten und Schwächen gut darin zu bewegen und die Aussagekraft einer Note zu relativieren.