Eine Geschichte,
wie Schule auch sein kann


Die Situation im Tal der Ait Bouguemez

von Scuola Vivante am 30. Oktober 2008
  • école vivante

Das Tal der Ait Bouguemez ist ein abgelegenes Hochtal inmitten des marokkanischen Hohen Atlas. Die fruchtbare Ebene liegt auf 1800m Höhe, ist ca. 6 Stunden Autofahrt von Marrakech und ca. 70km vom nächsten grösseren zivilisierten Ort, Azilal, entfernt.

Die Bewohner des Tales sind Halbnomaden des Berberstammes der Ait Bouguemez und sie leben, inzwischen sesshaft geworden, bereits seit mehreren Jahrhunderten hier.
Im Tal herrscht mitteleuropäisches Klima mit mild-warmen Sommern und kalten, schneereichen Wintern. Die Menschen leben hier vorwiegend von der Landwirtschaft und der Viehzucht, allerdings nur im kleinen Rahmen, der meist nur zur Selbstversorgung genügt. Zusätzlich dient inzwischen auch der immer stärker wachsende Tourismus als Einnahmequelle, zumindest in den Sommermonaten, wenn die Männer als Maultiertreiber mit auf Trekkingtouren gehen.

Das Tal selbst besteht aus 27 kleinen Dörfern und einer Gesamteinwohnerzahl von ungefähr 14.000 Menschen. In fast jedem Dorf gibt es eine Moschee, kleinere Krämerläden und eine Grundschule in welcher jedem Lehrer ca. 40 Schüler zugeordnet sind, die auf kleinstem Raum und unter einfachsten Verhältnissen mehr oder weniger regelmässig unterrichtet werden. Die Schulhäuser sind karge, kleine Betonhütten mit einer Wandtafel und klapprigen Pulten und Bänken, unbeheizt und meist ohne Toilette oder fliessend Wasser. Die Züchtigung mit dem Rohrstock ist noch an der Tagesordnung und strenger Frontalunterricht gang und gäbe. Der Unterricht erfolgt auf Arabisch und die meisten Kinder haben, zumindest zu Beginn, grosse Schwierigkeiten dem Ablauf zu folgen, da ihre Muttersprache, der Berberdialekt Tachelheït, vom Arabischen völlig unterschiedlich ist.

Ein grosser Teil der Erwachsenen sind Analphabeten und die wenigsten Kinder gehen nach den ersten sechs Pflicht-Grundschuljahren auf weiterführende Schulen. Das vermittelte Wissen bleibt meist eher schlecht als recht hängen und aufgrund der fehlenden Bildung der Eltern werden auch nur wenige Kinder (meist nur eines pro Familie) in ihrer höheren Schullaufbahn unterstützt. Die anfallende Haus- und Feldarbeit ist oft wichtiger als die Schulaufgaben und das benötigte Lehrmaterial meist zu teuer um es in ausreichender Menge für mehrere Kinder anzuschaffen.

Tabant ist der zentrale Marktort des Tales. Hierher kommen die Menschen zum Wochenmarkt, zur Krankenstation, um bürokratische Dinge zu erledigen oder die Post aufzusuchen. Es gibt hier eine grössere weiterführende Realschule, neuerdings auch ein Gymnasium, sowie Marokkos einziges Bergführerausbildungszentrum.

Die Lebensweise der Menschen hier ist in vielen Bereichen noch sehr altertümlich. Die Felder werden nach wie vor mit Maultier und Pflug bestellt, mit der Sense gemäht und die Kühe von Hand gemolken. Wäsche wird von Hand am Fluss gewaschen und das Brot jeden Morgen zuhause frisch gebacken. Die Häuser sind in traditioneller Lehmbauweise errichtet und beherbergen nebst dem Vieh Grossfamilien von 5-10 Personen.
Die Menschen sind praktizierende Muslime, die ihren Tages- und Jahresablauf nach den religiösen Festen und den jahreszeitlich anfallenden Tätigkeiten in Haus und Hof richten. Die meisten Arbeiten werden homogen und in Gemeinschaft erledigt, man braucht einander und der Einzelne ordnet sich der Gruppe unter.
Der Zusammenhalt innerhalb der Grossfamilien und Dorfsippen ist noch sehr eng und die Entscheidung des Dorfrates zählt meist noch mehr als die des staatlich eingesetzten Bürgermeisters.

Durch die vor wenigen Jahren fertig gestellte Teerstrasse, die das Tal mit der restlichen Welt verbindet, und aufgrund des zeitgleich installierten Stromnetzes, findet momentan jedoch ein rascher Wandel in der Lebensweise der Menschen statt. Moderne Errungenschaften und das Fernsehen halten nun Einzug in alle Haushalte und wo früher die Menschen abends gemeinsam beim Geschichtenerzählen zusammen sassen, sitzen die Leute nun jeder für sich zuhause vor dem Bildschirm.
Die Allgemeinbildung, vor allem die der Frauen, erfährt hierdurch einen kleinen Auftrieb, die Gemeinschaftsbande und Traditionen werden durch die modernen Medien aber geschwächt.

Durch die neuen relativ guten Zufahrtsmöglichkeiten ins Tal blüht auch der Tourismus immer mehr auf und Individualreisende machen einer immer grösser werdenden Besuchermasse Platz. Marokkaner aus den Städten beginnen die Schönheit und angenehme Kühle des Tales, vor allem im Sommer, zu schätzen und es wird immer mehr Land an Fremde verkauft, welche sich hier ihre Ferienhäuser und Zweitwohnsitze bauen.

So werden die Einheimischen jedes Jahr stärker mit den Gegensätzlichkeiten zwischen ihrer traditionellen Lebensweise und der der Besucher konfrontiert und bekommen kulturelle Unterschiede und die Kluft zwischen Arm und Reich, Modern und Rückschrittlich immer mehr zu spüren. Umweltverschmutzung, Landflucht, Arbeitslosigkeit und eine wachsende Unzufriedenheit unter den Jugendlichen sowie allerlei andere negative Begleiterscheinungen machen sich leider immer deutlicher bemerkbar.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Idee einer alternativen Bildungsmöglichkeit für die Kinder und Jugendlichen des Tales mit den anfänglichen Fragen:
Wie kann man bessere Lernbedingungen schaffen? Wie kann man den Kindern Wissen vermitteln, das sie nicht in Konflikt mit ihrer familiären Lebensweise bringt? Wie kann man sie sensibel auf die sich immer schneller ändernden Lebensbedingungen vorbereiten und sie dennoch in ihrer traditionellen Verwurzelung und der Liebe zur Heimat stärken? Wie kann man Möglichkeiten schaffen, welche, zumindest einer auserwählten Zahl von Kindern, bessere und globalere Zukunftschancen bieten? – Chancen auf eine individuelle, kreative, umfassendere Bildung, die neue Horizonte eröffnet und persönliche Talente fördert?

Stefanie Tapal Mouzoun, Marokko