Manche Menschen haben so einen ganz besonderen Charakter – und manche Weinsorten auch. Und es gibt sogar Landschaften, die auch einen besonderen Charakter haben und – wenn ich das richtig gesehen habe – auf Grund der Unterlagen, die ich vor einigen Jahren schon von dieser Schule bekam, auf Grund des wunderbaren Filmes, den ich vor ein paar Tagen, Wochen auch sah, da dürfte es so sein, dass auch diese Schule einen ganz besonderen Charakter hat.
Und ich möchte gerne mit Ihnen jetzt die drei wesentlichen Charakterzüge, die ich in dieser Schule entdeckte, anschauen.
Drei Charakterzüge – welche sind denn das?
Die Tendenz, die Fähigkeit und das Bestreben, die Kinder, die in diese Schule gehen, von der Natur, von dieser Welt berühren zu lassen und sie diese Welt auch berühren lassen. Das ist der erste Charakterzug, den ich entdeckt habe.
Der zweite, ein ganz merkwürdiges Phänomen, über das die Menschen schon seit Jahrtausenden nachdenken, das Phänomen, zu entdecken, wer Menschen im Grunde ihres Wesens sind, zu entdecken, wer diese Kinder im Grunde ihres Wesens sind und dies auch zu fördern.
Und drittens: Mut, ganz einfach Mut.
Ich möchte gerne über diese drei Phänomene kurz mit Ihnen reden.
Zunächst einmal Kinder von dieser Welt berühren zu lassen und sie diese Welt auch berühren lassen.
Was heisst das?
Wir hören heute so unglaublich häufig, die Vorwürfe, die etwa so aussehen, junge Menschen hätten kein Verantwortungsgefühl mehr, sie würden an nichts und an niemanden nur an sich denken, sie würden sich in dieser Welt nicht einsetzen, sie wären egoistisch eben, sie hätten zu wenig Verantwortungsgefühl.
Ist das wirklich so?
Es ist wahrscheinlich einerseits so und andererseits gar nicht so, denn wenn wir die Frage, was ist Verantwortung, anschauen, dann entdecken wir, dass hinter der Fähigkeit, Verantwortung zu tragen, zunächst einmal eine andere Fähigkeit steckt: Die Fähigkeit zu sorgen für etwas, denken für oder an etwas, Sorge tragen für etwas.
Und wenn wir diese Vorwürfe jetzt ansehen, dann entdecken wir, dass auch diese Menschen, an die der Vorwurf gerichtet ist, sie wären zu wenig verantwortungsvoll, tragen Sorge für etwas, denken an etwas tun für etwas. Sie tun nur ganz Vieles, ganz viel für ihre kleine Welt.
Sie tragen Sorge dafür, ob das Auto silbergrau oder blau metallic ist, ob ein Fernsehbildschirm eher ganz schmal oder ein bisschen breiter ist, sie tragen Sorge dafür, ob die Jeansmarke so oder so ausfällt – ich weiss jetzt die neuesten Richtungen nicht – ob der Hosenboden weiter oben oder tiefer nach unten zu lagern ist.
Das heisst Sorge tragen zu etwas kann jeder heute und tut jeder heute, auch die, an die dieser Vorwurf gerichtet ist. Es ist nicht die Frage, ob man dies kann oder nicht. Es kann jeder und tut jeder. Sorgen tut jeder sich um etwas. Die Frage ist, wofür sorgt man sich. Sorgt man sich bloss für die kleine Welt – das ist auch wichtig – aber das ist nicht genug – oder trägt man Sorge für eine grössere Welt, für andere Menschen, für die Mitmenschen für die Solidarität, für die Umwelt wofür sonst noch. Und wenn wir sagen, Menschen hätten kein Verantwortungsgefühl mehr heute, dann meinen wir, sie würden Sorge tragen für ihre kleine Welt aber zu wenig für die grosse.
Wie entwickeln aber Menschen diese Fähigkeit, Sorge zu tragen für die grosse Welt?
Da gibt es eine wunderbare Möglichkeit: berührt werden von dieser Welt.
Wenn Sie berührt werden vom Schicksal eines Mädchens, das in einer Grossstadt lebt und nicht mehr die Düfte der Wiese, von Wiesen erleben kann, nicht mehr den Frühling riechen und hören kann, dann werden sie für dieses Mädchen etwas tun.
Wenn Sie berührt werden von der Geschichte eines alten Mannes, der nicht mehr für sich sorgen kann, der nicht mehr hinausgehen kann, der nicht mehr bunte Farben sehen kann, dann werden Sie für diesen alten Mann auch Sorge tragen. Das heisst, dafür, dass wir Sorge tragen können für etwas, verantwortlich sein können für etwas, müssen wir zuerst berührt werden von diesen Dingen.
Und was entdecken wir in diesem wunderbaren Film von Kurt Reinhard? Sie werden Bilder sehen, in denen Kinder berührt werden von etwas, in denen Kinder, ein Mädchen zum Beispiel ein Labyrinth berührt, in denen Buben einen Wald berühren, in denen Kinder sich sogar gegenseitig berühren, zum Beispiel indem der grössere zum kleineren sagt, people, das ist Englisch und das heisst „Menschen“, „Leute“.
Ich komme zum zweiten Punkt. Die Fähigkeit zu entdecken, wer man im Grunde seines Wesens ist, dies zu fördern.
Wie wird man der Mensch, der man im Grunde seines Wesens ist? Mit dieser Frage beschäftigen sich seit Jahrtausenden Philosophen und mittlerweile kennen wir die Antwort auf diese Frage auch. Es sind drei Möglichkeiten, die dies fördern.
Eine starke Aussenorientierung, dies bedeutet, hinauszugehen in die Welt, sich einzusetzen für diese Welt, sich selbst vergessen für diese Welt, für andere Menschen, tun, denken, lernen, handeln, machen, draussen in der Welt, weg von mir, hin in diese Welt, hin zu anderen Menschen.
Das ist das eine Prinzip.
Das zweite Prinzip ist – und es geht um die gesunde Balance – zurück zu gehen zu sich. Nachzudenken darüber, wie das alles auf einen wirkt. Was einem fasziniert, wo man die Ziele neu stecken muss, welche Ziele einen berühren, welche Menschen einen faszinieren, wo möchte man sich mehr einsetzen und wo möchte man sich wieder zurücknehmen
Mit dem Satz etwa: Wer ist stärker? Ich oder Ich? Also zurück zu sich, das ist die zweite Möglichkeit.
Und die dritte Möglichkeit in diesem Bereich zu entdecken, wer man im Grunde seines Wesens ist, auf einen Menschen zu treffen, der einen wohlwollend anschaut und das, was in einem steckt auch sieht. Wohlwollend sozusagen einen auch entdeckt, das was einer kann, was einer vielleicht noch nicht realisiert aber was in einem angelegt ist, an Fähigkeiten, an Gutem an Taten, an Möglichkeiten.
In diesem Film von Kurt Reinhard werden sie Bilder sehen, die zunächst einmal das eine zeigen: Kinder, die sind aktiv, einer, der baut in einer unglaublichen Geschwindigkeit Ikarusflügel. Sie werden andere Bilder sehen, die das andere zeigen. Ein Mädchen sagt zum Beispiel: Am Anfang konnte ich es nicht, aber dann habe ich es immer mehr und mehr geübt und am Ende gelang wir das. Das ist der Weg zurück zu sich. Und dann werden sie noch Bilder sehen, die zeigen, dass eine Lehrerin, so verschmitzt wie sie ist, eine Schülerin anschaut du sagt: Du kannst das nicht, gell, das ist schwer, aber du wirst es schon schaffen. Das ist dieser wohlwollende Blick.
Ich komme zum dritten Punkt: Mut.
Sie sind Eltern, die Schüler haben in einer ungewöhnlichen Schule. Ihr seid Schüler, die in eine ungewöhnliche Schule geht und Lehrer vielleicht in dieser ungewöhnlichen Schule, oder Förderer. Die Schule ist sehr jung und diese Schule geht ungewöhnliche Wege. Und ungewöhnliche Wege zu gehen, das bedeutet immer auch ungewöhnlich viel Mut aufbringen zu können oder zu sollen oder zu wollen oder zu müssen.
Mutig zu sein bedeutet aber nicht, dass man keine Angst hat. Mutig zu sein bedeutet nicht, dass man nicht einmal zweifelt. Ich denke, wenn Sie Lehrer in dieser Schule sind, dann zweifeln sie manchmal. Sie fragen sich, ist das wirklich der richtige Weg? Fordere ich das Kind genug? Und richtig? Übersehe ich etwas? Müsste ich vielleicht einen ganz anderen Weg gehen?
Wenn Sie Eltern sind, die Schüler in dieser Schule haben, dann sind sie vielleicht auch manchmal verunsichert. Sie fragen sich: Ist das die richtige Schule für mein Kind? Was sagen meine Schwiegereltern? Schaffen meine Kinder die Prüfung in eine andere Schule? Und was sagen meine Nachbarn dazu?
Und wenn ihr Schüler in dieser Schule seid, dann seid ihr vielleicht von Zeit zu Zeit auch verunsichert. Und habt dann vielleicht einmal Angst. Die Angst, was sagen die anderen dazu? Die Angst, schaffe ich die Prüfung in die höhere Schule? Die Angst, was werde ich nachher machen? Oder – komme ich gut bei meinen Mitschülern oder bei den anderen an?
Wie gesagt, mutig zu sein, bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Mutig zu sein bedeutet etwas ganz anderes. Mutig zu sein bedeutet, dass man bereit ist mit dieser Angst, mit dieser Unsicherheit einen ungewöhnlichen Weg dennoch zu gehen. Einen wertvollen Weg dennoch zu gehen. Das heisst, eigentlich sind mutig jene Menschen, die Angst haben, immer wieder Angst haben aber dennoch sich von dieser Angst nicht bestimmen lassen.
Und in diesem Film von Kurt Reinhard werden Sie Bilder sehen, die ein Mädchen zeigen, das sagt: Ich weiss nicht, ich glaube nicht, dass wir mehr lernen als andere, aber ich glaube, wir sind freier. Vielleicht kann sie ja eines Tages auch sagen: Und wir lernen tiefer, sehr tiefe Lerninhalte auch.
Das sind die drei Charakterzüge. Und jetzt habe ich allerdings auch eine Frage, eine provokante Frage an die Schüler dieser Schule: Ihr geht einen ungewöhnlichen Weg, ihr geht in eine unübliche Schule. Das ist keine Massenschule, kein 0 8 15- Lehrprogramm, das ihr hier absolviert. Und meine Frage ist eigentlich: Wozu das Ganze? Wozu macht ihr das? Macht ihr das bloss, weil diese Schulzeit absolviert werden muss? Geht ihr in diese Schule und macht ihr die Projekte mit, weil das eben dazu gehört? Weil das die nächste Schule ist, die erstbeste Möglichkeit? Oder habt ihr etwas anderes mit eurem Leben vor? Und ich habe einen Hinweis. Wenn – später, in einigen Jahren – eine von euch eine Lehrerin oder ein Lehrer sein wird in einer Schule, in einer Staatsschule vielleicht, die nicht mehr die Berührung mit der Natur fördert und ihr dafür gerade steht, dass auch diese Kinder wieder berührt werden von der Natur. Wenn ihr eines Tages dafür Sorge trägt, dass Menschen so fair miteinander umgehen und diskutieren, wie einige von euch in dieser politischen Diskussion miteinander diskutieren. Wenn einige von euch für ein Lächeln bei einem traurigen Menschen sorgen werden, wie die Sibylle und Boni heute noch einige Male machen werden, dann war diese Schule, dann war diese Schulzeit in der Tat nicht umsonst. Es ist also die Frage an euch gestellt – und das könnt ihr nur durch euer Leben beantworten – was trägt ihr hinaus, von alldem, was ihr in dieser Schule erlebt, was wird daraus später? Und vielleicht sehen wir eines Tages einen nächsten Film von Kurt Reinhard, dieser Film zeigt dann die Schüler nach der Schule unter Umständen im Einsatz dafür, dass diese Welt in der Tat ein bisschen – und das kann jeder nur für sich selbst tun – ein bisschen gut, ein bisschen besser, ein bisschen heiterer vielleicht auch wird. Und das ist in der Tat möglich.
Ich fasse also zusammen. Die drei wichtigen Charakterzüge, die diese Schule hat, die ich hier sehe, sind:
- Das Bestreben, dass Kinder von dieser Welt berührt werden und sie diese Welt selber auch berühren lassen, berühren können, die Voraussetzung für die Fähigkeit zur Verantwortung.
- Das Bestreben, zu entdecken, wer die Kinder im Grunde ihres Wesens sind und dies zu fördern und das Entstehen und das Wachsen, das diesbezügliche Wachsen zu fördern.
- Und drittens Mut.
Woher ich diese Charakterzüge kenne und weiss, natürlich ganz klar durch diesen ganz besonderen Film von Kurt Reinhard, der es in der Tat geschafft hat, schon in wenigen Bildern, in wenigen Augenblicken das Wesentliche zu erfassen.
Aber man kann nur etwas erfassen, was vorhanden ist. Kurt Reinhard konnte diese Charakterzüge einfassen, weil diese Charakterzüge vorhanden sind in dieser Schule. Und jetzt könnten wir diese Frage woher, woher, woher weiter fortsetzen und da kommen wir zu der Schule, zu den Schülern und letztlich werden wir auf die Frage, woher die Charakterzüge weiter betreiben, dann kommen wir zu zwei charakterstarken Menschen, denke ich. Das sind die Leiterin dieser Schule, das ist einmal Veronika Müller Mäder und Jürg Mäder. Das ist der zentrale Punkt, woher diese Charakterzüge ausgehen.
Das ist meine Rede zu diesem Film und zu dieser Schule und nun wünsche ich Ihnen einen schönen Vormittag. Dankeschön.
Dr. Boglarka Hadinger, Institut für Logotherapie, Tübingen/Wien
Laudatio zur Filmpremiere „Zugvögel – ein Jahr an der Freien Volksschule Werdenberg“, 13. März 2005, CH – Buchs SG